14 Juni 2011

Das Leben und Wohnen der Anderen...

Ich habe eine große Leidenschaft.Vermutlich bin ich damit nicht allein. Da ich ja sehr gerne in Schubladen stecke und noch lieber klischeetisiere, schaue ich mir gern Menschen an und überlege mir, wie wohl ihre Wohnungen aussehen könnten.
Manchmal laufe ich auch abends mit meinem Hund durch die Straßen und linse in Erdgeschosswohnungen. Sehr aufschlussreich, teilweise lustig, tragisch, unfassbar oder gruselig, was man da so sieht.

Besonders schön ist die Vielfalt der Wohnungen (und deren Mieter) in Neukölln. Die erste Wohnung an der ich bei meinen abendlichen Spaziergängen vorbei komme gehört einem richtigen Proll, wie er im Buche steht. Er ist altersmäßig schwer einzuschätzen. Er kann Mitte 20, aber auch Mitte 40 sein. Jahreslanges braten im Solarium macht die Bestimmung des Alters sehr schwer. Vermutlich heißt er Ralle und ist Bauarbeiter oder arbeitet bei der BSR. Er trägt am Liebsten Jogginghosen mit Zeitungsmustermotiv, neonfarbene Turnschuhe und Rippshirts. In seiner Freizeit geht er gern ins Solarium, telefoniert im Fitnessstudio (trainieren wird er dort nicht, aber angemeldet ist er garantiert bei McFit), mag Rummel, trifft sich mit Kumpels in seiner Lieblingskneipe, die entweder "Zum schiefen Eck" oder "0815" heißt und spielt dort Dart, schaut Sportsendungen und kneift der drallen Bedienung täglich in den Po und zwinkert ihr mit seinem Goldzahngrinsen zu. Seine Wohnung passt perfekt zu ihm. Ralle mag es sportlich ohne dabei sportlich zu sein. Ralle hat Fußballwimpel, Fußballschals, den neuesten Kalender mit heißen Mädels aus der Coupé, Fotos in Großformat von Motorrädern mit Mädels drauf, die aussehen als würden sie sich täglich fesseln lassen. Seine Einrichtung ist eher dunkel, viel schwarz, viel dunkelblau. In einer Ecke seines Wohnzimmers steht eine Glasvitrine mit Parfums, einem großen Bierglas mit einem lustigen Spruch und Modellautos, sein schwarzes Ledersofa hat auch schon einmal bessere Zeiten gesehen und die Flauschedecke mit Pferdemotiv hat er mal von seiner Mutter geschenkt bekommen. Natürlich ist Ralle technikmäßig auf dem neuesten Stand. Schließlich muss er ja die Ladies beeindrucken, die er im "Zum schiefen Eck" oder auf dem Rummel bei der Boxmaschine aufgerissen hat. 
Ein paar Häuser weiter lebt eine türkische Familie. Sehr ordentlich ist es dort, aber wahnsinnig voll! Überall sind Deckchen auf den Tischen, den Stühlen, den Regalen, dem Fernseher, dem Radio, unter den Töpfen der Plastikblumen. Überall. Die Mama sitzt auf dem geblümten Sofa und häkelt neue Deckchen. Der Vater sitzt rauchend auf dem gemütlichen Sessel und schaut fern. In einer Lautstärke, bei der ich mich jedes Mal wundere, warum dort die Polizei nicht auftaucht, aber bei Privatparties, die definitiv ruhiger sind. Der Esstisch dieser Familie ist jedes Mal reich gedeckt. Oliven, Kekse, Nüsse, Trockenobst, Schokolade, Halva, Baklava, Lokum... ALLES ist drauf. Die obligatorische Wachsdecke darf natürlich auch nicht fehlen. Die Schrankwand beherbergt viele kleine Figuren und kitschigen Kram. An den Wänden hängen opulente Holrahmen mit den Bildern, die wahrscheinlich beim Kauf drin waren und eigentlich ersetzt werden sollten.
Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich meine absolute Lieblingswohnung. Ich gerate jedes Mal in Versuchung bei "Mitten im Leben" anzurufen und die Familie (ich nenne sie jetzt einfach mal) Koslowski vorzuschlagen. Familie Koslowski teilt ihren Geschmack mit der Hälfte aller in Neukölln lebenden Menschen, glaube ich. Diese Familie ist den ganzen Tag zuhause und stellt Zigaretten im Akkord her. Zum Arbeiten bleibt da garkeine Zeit.
Blauer Teppichboden mit ausgebranntem Muster, eine Couch, die es vor 15 Jahren bei Domäne im Angebot gab in dunkelgrau mit peppigem buntem Spränkelmuster, ein praktischer Multifunktions-Kurbel-Fliesentisch, eine schwarze Schrankwand mit blau abgesetztem Muster und Aussparung für den Fernseher, unzählige Herzkissen mit "I love you"-Motiv neben Lebkuchenherzen, aufblasbaren Keulen vom Rummel und vielen, vielen Kuscheltieren, die friedlich nebeneinander auf der Sofalehne sitzen. Auf dem Kurbel-Fliesentisch steht ein übervoller Aschenbecher, der die Form eines Drachens hat. Daneben das Wichtigste Utensil der Familie Koslowski: die Stopfmaschine für den Pall Mall Tabak. Über dem Sofa hängt ein Kunstwerk von unfassbarer Schönheit und Eleganz. Das Lieblingstier der Trash-Tv Familien und zu Unrecht verkitschte Säugetier: der Delfin. Aber damit nicht genug, der Delfin springt aus dem Wasser und hinter ihm ein glitzernder und in allen Farben strahlender Sonnenuntergang. Wundervoll! Familie Koslowski braucht keine Tine Wittler. Familie Koslowski hat es einfach drauf.
Neben Familie Koslowski wohnt eine aus Süddeutschland. Der Mann ist vermutlich Berater einer großen Firma und die Frau ist entweder nur Hausfrau oder Sozialpädagogin. Abends sitzen sie mit ihren Kindern (Thorben-Niklas und Emilia-Farula) zusammen am großen Designertisch und spielen pädagogisch wertvolle Brettspiele oder helfen bei den Hausaufgaben. Das Wohnzimmer dieser Familie ist immer aufgeräumt und feng-shui-mäßig ausgerichtet. Selbstverständlich gibt es in dieser Wohnung keinen Fernseher, aber dafür ein riesiges Bücherregal mit den Klassikern der deutschen Literatur. Wenn die Kinder im Bett sind, sprechen die Erwachsenen über das Buch, welches sie gemeinsam lesen und diskutieren zwischendurch über wichtige Geschehnisse der Welt und die Ungerechtigkeit der Steuerbeiträge. 
Es gibt noch unendlich viele andere Beispiele, die nennenswert wären. Die zusammengewürfelte, komplett verwüstete Studenten-WG, die Messi-Wohnung, das 50 qm Wohnzimmer des sich die Hände reibenden Stuttgarter, der gerade wieder ein Haus in Kreuzberg gekauft hat, um es in ein unbezahlbares Loftgebäude umzubauen nachdem er alle Bewohner rausgeschmissen hat, das esoterisch angehauchte Hippie Wohnzimmer mit Tüchern, Stoffen, Räucherstäbchen und im Schneidersitz sitzenden Lebenskünstlern... und und und. 

Ich würde niemals ins Erdgeschoss ziehen und falls es einmal nicht zu umgehen ist, werde ich alle Beobachter reinlegen und meine Einrichtung komplett gegen mein Styleverständnis einrichten und die Beobachter beobachten!